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kath 2:30 EssayEine Auseinandersetzung mit der Dresdner Rede 2014 von Sibylle Lewitscharoff

Es ist heute wahrhaft nicht schwer, das Etikett „Intellektuell“ zu bekommen. Man muss schreiben können und die Möglichkeit haben, das Geschriebene auch zu veröffentlichen. Stemmt man sich dann noch gegen den Zeitgeist – was auch immer das sein soll … – dann steht der Bewunderung der Feuilletonisten nichts mehr im Wege. Leser von Feuilletons sonnen sich dann gerne im Glanz der intellektuell Etikettierten. Und je weniger man beim Lesen versteht, desto intellektueller muss der Autor wohl sein. Der Philosoph Karl R. Popper hat diese Erfahrung am eigenen Leib gemacht. Er stellt im Nachgang einer Fernsehdiskussion, an der auch Ernst Bloch teilgenommen hat, fast mehr amüsiert als resigniert fest:

Es kam zu einigen unbedeutenden Zusammenstößen. (Ich sagte, wahrheitsgemäß, daß ich zu dumm bin, um seine Ausdrucksweise zu verstehen.) Am Schluß der Diskussion bat uns der Gesprächsleiter, Dr. Wolf gang Kraus: „Bitte sagen Sie in einem Satz, was Ihrer Meinung nach am meisten not tut.“ Ich war der einzige, der kurz antwortete. Meine Antwort war: „Etwas mehr intellektuelle Bescheidenheit.“ (Quelle: Die Zeit, Jahrgang 1971, Nr. 39 – kursiv im Original)

Diese Erfahrung führt Karl R. Popper zu einer polemischen Abrechnung mit den von ihm so genannten „dreiviertel Gebildeten“, deren Anmaßung

das Phrasendreschen [ist], das Vorgeben einer Weisheit, die wir nicht besitzen. Das Kochrezept ist: Tautologien und Trivialitäten gewürzt mit paradoxem Unsinn. Ein anderes Kochrezept ist: Schreibe schwer verständlichen Schwulst und füge von Zeit zu Zeit Trivialitäten hinzu. Das schmeckt dem Leser, der geschmeichelt ist, in einem so „tiefen“ Buch Gedanken zu finden, die er schon selbst einmal gedacht hat. (Wie heute jeder sehen kann – des Kaisers neue Kleider machen Mode!). (Quelle: Ebd.)

So kommt er zu folgendem Schluss:

Das Schlimmste – die Sünde gegen den heiligen Geist – ist, wenn die Intellektuellen es versuchen, sich ihren Mitmenschen gegenüber als große Propheten aufzuspielen und sie mit orakelnden Philosophien zu beeindrucken. (Quelle: Ebd.)

Demgegenüber hat nach Karl R. Popper jeder echte Intellektuelle

eine ganz spezielle Verantwortung. Er hat das Privileg und die Gelegenheit, zu studieren. Dafür schuldet er es seinen Mitmenschen (oder „der Gesellschaft“), die Ergebnisse seines Studiums in der einfachsten und klarsten und bescheidensten Form darzustellen. (Quelle: Ebd.)

Bescheiden sind die wenigsten derer, die sich heute im Glanz der selbstverliehenen Intellektualität sonnen. Bescheiden ist bisweilen höchstens das Niveau ihrer Argumentationen, wenn es überhaupt welche gibt. Gerade im Bereich der vermeintlich katholisch-intellektuellen Elite fällt das auf. Da gibt es abenteuerlichen Katholizismus, der letztlich nichts anderes ist als unverhohlener Papalatrismus, oder die angestrebte Renaissance der mystischen Kraft des Lateinischen im Gottesdienst, als handele es sich bei der Liturgie um eine magische Handlung mit Zaubersprüchen (und in völliger Unkenntnis, dass das Lateinische noch nicht einmal eine der biblischen Ursprachen ist). Der jüngste Auswurf katholisch verbrämter „Intellektualität“ war im Rahmen der „Dresdner Reden 2014“ von der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff zu hören und zu lesen.

Sibylle Lewitscharoff sprach auf der Dresdner Bühne des Staatsschauspiels am 2. März 2014 zu dem Thema „Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod“. Das Thema hat nicht nur einen hohen Anspruch; es enthält auch ein Versprechen, nämlich eine Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Determination der beiden unaufgebbaren Existentiale des menschlichen Seins. Anfang und Ende sind unausweichlich. Geburt und Tod definieren die Eckdaten des menschlichen Lebens, das den Zwischenraum zwischen diesen Polen bildet. Außerhalb dieser Pole existiert der Mensch nicht – zumindest nicht – wenn man ein an die Auferstehung der Toten Glaubender ist – in seiner irdisch-fleischlichen Existenz, die in der Bibel als „sarkisch“ (vom griechischen Wort für Fleisch: σάρξ/sárx) bezeichnet wird – im Unterschied zur somatischen Existenz (vom griechischen σῶμα/sôma), die die leib-seelische Einheit meint, die auch den Tod überdauert.

In der Tat ist dieses Thema von enormer Bedeutung für die gegenwärtige Frage, was eigentlich der Mensch ist. Es kann aus ethischer Perspektive betrachtet werden, aber auch aus medizinischer, theologischer und ökonomischer, aus biologischer und neurowissenschaftlicher. Die Zugänge wären zahlreich gewesen. Sibylle Lewitscharoff wählt allerdings einen Zugang, der ihre Rede eher zu einem Psychogramm der eigenen Ängste und (sehr) kleinen Hoffnungen geraten lässt. Sie setzt bei ihren eigenen in der Kindheit gründenden Erfahrungen an: Sie erlebt als 11jährige den friedvollen, lebenssatten Tod der geliebten gläubigen Großmutter und macht im gleichen Jahr die traumatische Erfahrung des väterlichen Suizids, der nicht nur ihr Leben prägt, sondern auch das der Mutter, die noch in den letzten  Atemzügen die Wut auf den treulosen Weggang des Ehegatten bitter hinausröchelt:

„Das Todestheater meiner Mutter war ungeheuerlich. Sie starb mit vierundachtzig Jahren an einem Krebsleiden, keinesfalls befriedet und versöhnt, keinesfalls mit der Aussicht auf ein anderes, besseres Fortleben unter den Auspizien eines Sinns, der sich ihr einst glanzvoll eröffnen würde. Meine Mutter starb als rebellische Wutperson. Steckelesdünn, kraftlos, auf Minuten schon dem Tode nahe gerückt, bäumte sich in ihrem Bett auf, packte alles, was auf ihrem Nachttisch stand und warf es gegen ein Kruzifix an der Wand, röchelte tief und verschied.
Die Schwestern im evangelischen Krankenhaus waren bestürzt, dachten, da hätte der Leibhaftige in einem ihrer Betten gelegen. Aber nein. Die große Wutaktion unserer Mutter richtete sich nicht gegen Jesus Christus, sondern gegen ihren verfluchten Mann, der den Christusnamen im Vornamen trug, denn er hatte Kristo geheißen.“ (Quelle: S. Lewitscharoff, Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod, S. 5 – kursiv im Original)

Man muss diese Herangehensweise von Sibylle Lewitscharoff beachten, wenn man die Rede kritisch würdigen will. Und man muss sie äußerst kritisch würdigen. Als Autorin muss Sibylle Lewitscharoff wissen, dass es vor allem Anfang und Ende eines Textes sind, die die seine Rezeption beeinflussen. Der Anfang bestimmt die Aufnahme des folgend Geschriebenen, das Ende aber bleibt im Gedächtnis. Dieses sogenannte Achtergewicht kommt in ihrer Rede einer unsäglichen Tirade zu, die sie – die sie auch Religionswissenschaftlerin ist –  der Reproduktionsmedizin widmet. Sie schneidet damit ein Thema an, das auch in der katholische Moraltheologie intensiv diskutiert wurde. Die In-Vitro-Fertilisation, also die im Reagenzglas oder besser in der Petrischale vorgenommene extrauterine Befruchtung von weiblichen Eizellen mit männlichen Spermien wird tatsächlich von der katholischen Lehre abgelehnt. Dabei geht es nicht darum, dass der Kinderwunsch von Eltern nicht respektiert würde. Allerdings ist die Tatsache, dass bei jedem Reproduktionsversuch mehrere Eizellen befruchtet werden, von denen aber nur eine in den Uterus der künftigen Mutter eingepflanzt wird, problematisch. Für Katholiken ist der Mensch und seine Würde unverfügbar. Da kein Mensch sagen kann, wann denn nun das menschliche Leben definitiv beginnt, ist für die katholische Kirche der frühest mögliche Zeitpunkt – und das ist die Zeugung. Es ist die Kritik am Umgang mit den befruchteten Eizellen, die nicht in die Gebärmutter eingepflanzt werden, die die ablehnende Haltung der katholischen Kirche begründet. Aus ihrer Sicht wird hier menschliches Leben vernichtet. Dieser willkürliche Akt beschädigt die Würde dieses menschlichen Lebens.

Hätte Sibylle Lewitscharoff sich auf diesem Niveau mit der Frage der Reproduktionsmedizin befasst, hätte eine interessante Auseinandersetzung entstehen können. Tatsächlich setzt sie auch zu einer psychologisch begründeten Hinterfragung an, wenn sie auf die Identitätssehnsucht des Menschen zu sprechen kommt:

„Wie verstörend muss es für ein Kind sein, wenn es herausbekommt, welchen Machinationen es seine Existenz verdankt. Das Gemachtwordensein auf künstlichen Wegen ist etwas anderes für die zu Verrücktheiten neigende Vorstellungskraft als das Gezeugt- und Geborensein auf die übliche Weise, wie sie seit Jahrtausenden vorkommt und in den Schöpfungsmythen bearbeitet und verhandelt wird. Auch die herkömmliche Weise auf die Welt zu kommen, ist zweifellos unheimlich für ein Kind.“ (Ebd., S. 11.)

Darüber könnte man tatsächlich streiten, wäre da nicht die absurde Begründung dieses Gedankens, der sich wenige Zeilen vorher findet:

„Früher habe ich mich über das drastische biblische Onanieverbot gern lustig gemacht, inzwischen erscheint es mir geradezu als weise. Die Vorstellung, dass ein Mann in eine Kabine geschickt wird, wo er, je nach Belieben, mit oder ohne Hilfe von pornographischen Abbildungen, stimuliert wird, seine Spermien medizingerecht abzuliefern, die später in den Körper einer Frau praktiziert werden, ist mir nicht nur suspekt, ich finde sie absolut widerwärtig.“ (Ebd., S. 11.)

Die Bibel kennt kein Onanieverbot. Sie kennt nur eine kurze Bemerkung über Onan:

Juda nahm für seinen Erstgeborenen Er eine Frau namens Tamar. Aber Er, der Erstgeborene Judas, missfiel dem Herrn und so ließ ihn der Herr sterben. Da sagte Juda zu Onan: Geh mit der Frau deines Bruders die Schwagerehe ein und verschaff deinem Bruder Nachkommen! Onan wusste also, dass die Nachkommen nicht ihm gehören würden. Sooft er zur Frau seines Bruders ging, ließ er den Samen zur Erde fallen und verderben, um seinem Bruder Nachkommen vorzuenthalten. Was er tat, missfiel dem Herrn und so ließ er auch ihn sterben. (Genesis 38,6-10)

Im Hintergrund steht die sogenannte Leviratsehe. Um einer kinderlosen Witwe soziale Absicherung zu ermöglichen, war es die Pflicht des ältesten Bruders des Verstorbenen mit der Witwe Kinder zu zeugen. Diese Verpflichtung umgeht Onan, indem er seinen Samen zur Erde fallen lässt, so dass eine Zeugung nicht zustande kommt.

Die offenkundige Unkenntnis über diesen Sachverhalt führt Sibylle Lewitscharoff in ein schwieriges intellektuelles Dilemma. Sicher kann man die Frage stellen, ob Eltern ein Recht auf Kinder haben, das um jeden Preis zu erfüllen ist. Die auch dem Kind eigene Menschwürde stellt ein solches Recht in Frage, denn nicht das Kind muss die Wünsche der Eltern erfüllen, sondern es hat ein Anrecht auf einen Hegeraum, in dem es in das Leben wachsen kann. Die im Hintergrund der Onan-Erzählung stehende Leviratsehe stellt aber genau diesen Aspekt nicht in den Mittelpunkt, sondern das Recht der Witwe auf Kinder. Hier werden Kinder für Eltern gesucht und nicht – wie heute – Eltern für Kinder. Zur Erlangung der Mutterschaft war damals offenkundig (fast) jedes Mittel recht – auch die außereheliche Zeugung. Es ist ja gerade die Nichtzeugung, die dem Onan zum Verhängnis wird.

Der krude Umgang mit biblischer Tradition führt Sibylle Lewitscharoff deshalb drastisch in das eigene subjektive Lebensdilemma. Das Trauma der eigenen Todeserfahrungen hat sie offenkundig auf eine Weise verbittern lassen, die jedes Maß und Ziel verloren gehen lässt. Auch wenn sie feststellt, sie übertreibe (Ebd., S. 12), so übertreibt sie doch nur deshalb, weil ihr das

„gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse derart widerwärtig erscheint, dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas. Das ist gewiss ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.“ (Ebd., S. 12f.)

Sie weiß also um das Unrecht ihrer Aussage, stellt aber die Abscheu über die Vernunft. Das ist der Punkt, wo sie den Anspruch der Intellektualität nicht nur verlässt, sondern mit Füßen tritt. Es mag sein, dass sich Kinder und Menschen, die künstlich gezeugt wurden, schwer mit ihrer Herkunft tun. Sie bleiben trotzdem Menschen mit einer ihnen eigenen Würde, die es verbietet, sich beleidigen zu lassen. Sibylle Lewitscharoff fragte hingegen in einem Gespräch mit der FAZ, das am 6.3. 2014 veröffentlicht wurde:

Darf ich nicht sagen, was ich denke? (Quelle: FAZ, 6.3.2014)

Sicher – möchte man ihr antworten – denn die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Beleidigung und Entwürdigung ziehen allerdings auch eine Grenze, die nicht umsonst auch strafbewehrt sind. Es gilt eben nicht nur Voltair („Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.“), sondern auch Rosa Luxemburg („Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“). Und diese Freiheitsgrenze hat Sibylle Lewitscharoff bewusst und – so hat es den Eindruck – mit einer perversen Lust überschritten, indem sie das Existenzrecht der Menschen, die ihr Leben einer künstlichen Zeugung verdanken, in Frage stellt.

Um es im Sinne Karl R. Poppers kurz zu sagen: Auch wenn man gegen die Methoden der künstlichen Befruchtung ist – die Würde des Menschen bleibt unantastbar. Und auch diejenigen, die ihr Leben einer künstlichen Befruchtung verdanken, sind als Menschen gottgewollte Geschöpfe, ausgestattet mit uneinholbarer Würde. Einer Würde, die mit der Zeugung beginnt und auch im Tod nicht endet. Wer auch immer sich intellektuell mit diesem Leben auseinandersetzen will, er muss es mit Vorsicht und Ehrfurcht tun. Sibylle Lewitscharoff jedenfalls hat diese Ehrfurcht vermissen lassen. Vielleicht kann sie nicht anders und sie misstraut allem, was außerhalb ihrer Felsenhöhle ist – die Traumata ihrer Kindheit sitzen offenkundig zu tief.

Dr. Werner Kleine

Author: Dr. Werner Kleine

Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.

1 Kommentar


  1. […] Aber ihre Abscheu schließt eben auch sie mit ein. Deshalb finden sich auch zum Beispiel in den katholischen Blogs scharfe Gegner der Rede, denn das katholische Verbot einer künstlichen Befruchtung bezieht das […]

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